Donnerstag, 5. Juli 2007

Das Wunder vom Wedding

Von Thomas Hanke

Nirgendwo sonst leben mehr Menschen von Sozialhilfe, nirgendwo sind die Sprachprobleme der Schüler gravierender, nirgendwo ist der Ausländeranteil höher – als in Berlin-Wedding. In dem Berliner Stadtteile mit den größten sozialen Problemen macht ein Amerikaner aus frustrierten Jugendlichen eine erfolgreiche Musicaltruppe.

BERLIN. Um seine bundesweite Bekanntheit muss sich dieser Stadtteil keine Sorgen machen. Wenn es auch nicht die Art von Renommee ist, die man sich wünscht. Gemeinsam mit Neukölln gelten Wedding und Moabit als die Problemkinder der Hauptstadt. Der Bezirk Mitte, zu dem Wedding gehört, bringt es auf einen Anteil von 20 Prozent aller Straftaten in Berlin. Manche sprechen gar von der „Bronx von Berlin“.

Von dem Arbeiterviertel, in einem Kampflied einst besungen als „Roter Wedding, grüßt euch, Genossen, haltet die Fäuste bereit“, ist nicht mehr viel übrig. Wenn heute die Fäuste fliegen, gehören sie nicht revolutionären deutschen Arbeitern, sondern „Jugendlichen mit Migrationshintergrund,“ wie es im Verwaltungssprech heißt.

Peter Jerke kennt seine Kunden, er ist Präventionsbeauftrager des Polizeiabschnitts 36 im Wedding, wo er geboren und aufgewachsen ist. „Man darf nichts hochpuschen, auch früher schon gab es hier öfter was auf die Nase. Was sich geändert hat, ist die Qualität der Gewalt.“ In seiner Jugend habe man sich geprügelt, bis einer auf dem Boden lag, dann war Schluss. „Heute geht es dann weiter, dann wird auf das Opfer eingetreten“, sagt Jerke.

Man muss schon ziemlich verrückt sein, wenn man sich ausgerechnet den Wedding aussucht, um mit Jugendlichen ein Musikprojekt zu starten. Todd Fletcher ist verrückt. Das jedenfalls sagt der 38-jährige, in New York aufgewachsene Komponist von sich selbst. Ende vergangenen Jahres sprach er die Ernst-Schering-Oberschule an: Ob er nicht mit 100 Schülern ein Musical einstudieren könnte? Sue Timken, Gattin des US-Botschafters in Berlin, unterstützte Fletcher dabei.

„Die Schule war sofort interessiert“, sagt Schulleiter Hilmar Pletat. „Wir sahen die Gelegenheit, aus dem Trott auszubrechen.“ In Nachbarschaften wie dem Wedding ist Motivation keine leichte Aufgabe: Die Schüler, die zu 80 Prozent aus ausländischen Familien stammen, haben keine großen Erwartungen mehr an ihre Zukunft. Klares Rollenvorbild, vor allem der Jungs, sind cool-brutale „Gangsta Rapper“.

Pletat fiel allerdings die Kinnlade herunter, als er merkte, dass Fletchers Pläne noch nicht ganz ausgereift waren. So fragte er den Amerikaner, wie das Musical denn heiße. Den Namen habe er noch nicht, antwortete Fletcher. Genau genommen gebe es das Musical noch gar nicht. Das sollten die Schüler gemeinsam mit ihm entwickeln. Aber der Termin für die Aufführung, der sei klar: Mitte des Jahres. Ach ja, und es sollte nicht auf Deutsch, sondern Englisch sein.

„Und das mit unseren Kindern, die oft nicht einmal frei reden können, geschweige denn singen oder tanzen“, wundert Pletat sich noch heute. Ein Ding der Unmöglichkeit. Die Schule ließ sich trotzdem darauf ein: „Wir haben die riesige Chance gesehen, Schüler aus Familien, in denen Bildung keine Tradition hat, außerhalb des stinknormalen Unterrichts anzusprechen“, sagt Thomas Schumann, einer von drei Lehrern, die das Projekt betreut haben.

Mitte Februar ging es los. „Die Jugendlichen waren von Anfang an begeistert“, sagt Fletcher. „Theater, Musik, Tanz – das sprach sie sofort an. Andererseits sagte bei den Castings jeder von ihnen: Das schaff ich nicht, das kann ich nicht.“

Dann konnten sie doch, und wie. Am vergangenen Wochenende war die Galaaufführung im Musiktheater Atze im Wedding. Draußen viele Jugendliche mit schwarzen T-Shirts und Baseballkappen, drinnen große Prominenz: Bundespräsident Horst Köhler mit Frau, Innenminister Wolfgang Schäuble, das Botschafterpaar. Irgendwie erwarteten die meisten wohl ein Stück rührenden Dilettantismus, am Ende würde man in pflichtbewusster Anerkennung klatschen.

Doch es kommt anders: Von der ersten Szene an sind die Zuschauer gefangen von Stimmen, die so voll und kräftig sind, als hätten sie Jahre an Gesangsausbildung hinter sich, von einer Sicherheit im Auftreten und von Tanzeinlagen, die einen einfach mitreißen.

Die Handlung haben die knapp 100 Darsteller selbst entworfen. Es ist ihr Leben im Kiez und die Entstehungsgeschichte des Musicals: Ein großes Straßenfest soll organisiert werden. Anfangs sind sich alle einig, dann kommt es unter dem Einfluss einer kleinen Gruppe, die alle Akteure runtermacht, zum Streit.

Das Fest wird ein totaler Reinfall. Ein paar Jungs versuchen mit nicht nur verbaler Gewalt, ihre Freundinnen von den weiteren Proben abzuhalten. Die Abrechnung der Mädchen mit den Jung-Machos gehört zu den stärksten Momenten des Stücks – ebenso wie der Auftritt von Bauchtänzerinnen, einer Breakdance-Gruppe und nicht zuletzt eines Rappers: „Meine Kugel ist im Lauf, wenn du Angst hast, geh nach Haus, guck die Sendung mit der Maus“, singt Hassan, 13 Jahre alt. „Der wollte unbedingt was mit töten, umbringen in seinem Text haben“, lacht Fletcher. „Ich hab ihm gesagt: Hassan, das hat doch nichts mit deinem Leben zu tun, du sollst von dir singen.“ Am Ende singen dann doch noch alle zusammen: „Give Us a Chance“.

Wie hat Fletcher das Wunder hinbekommen, aus frustrierten Jugendlichen ohne jedes Selbstbewusstsein eine Musicaltruppe zu machen? „In diesen Kindern steckt unglaublich viel drin. Man muss ihnen nur eine Chance geben – und viel von ihnen verlangen.“ Hart sei er gewesen, räumt Fletcher ein, bei der Qualität könne es keine Kompromisse geben. Das hätten die Darsteller verstanden.

Köhler war begeistert: „Das ist besser als manches, was ich am Broadway gesehen habe.“ Schäuble ist kaum wiederzuerkennen. Gerührt und etwas verlegen sitzt er im Kreis der Darsteller, die alle ein Foto mit ihm wollen. Dann kommt der Polit-Pragmatiker wieder durch: „Eins weiß ich, das muss sich die ganze Kultusministerkonferenz ansehen, irgendwie schaffe ich das.“

Und noch einer ist gerührt: Jerke, der Präventionsbeamte. Seit 24 Jahren ist er Polizist. „Viele von den Jugendlichen kenne ich von der Straße, dass die so was schaffen – mir stand das Wasser in den Augen.“

Wie geht’s jetzt weiter? Wenn sich Sponsoren finden, gibt es im Herbst eine kleine Tournee. Das wäre dann das zweite Wunder vom Wedding.

Quelle

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